über die werke von Ruth Senn

 

Begrüssungsrede von Dr. Roland Scotti anlässlich der Vernissage in der Galerie zur Halle in Langnau am Albis 2003

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren 

Erst einmal möchte ich mich herzlich bei der Künstlerin Ruth Senn und bei der Galeristin Elsbeth Engler bedanken, dass ich heute über die Malerei von Ruth Senn sprechen darf. 

Manchmal vermisst man ja die Beschäftigung mit zeitgenössischer Kunst, gerade wenn man wie ich Kurator eines monographischen Museums für einen Künstler des letzten Jahrhunderts ist - obwohl der Kunst an sich immer etwas Zeitloses eignet. 

Ich möchte heute weniger zu dem Sichtbaren etwas sagen, kaum etwas zur Technik der Bilder. Zum einen sehen Sie die Arbeiten ja vor sich, zum anderen ist die Künstlerin anwesend und gibt Ihnen später sicher gerne Auskunft zum konkreten Werkprozess. Im Grunde möchte ich eher von den Entscheidungen der Künstlerin wie auch von meinen subjektiven Assoziationen sprechen - zum einen also den Werdegang, die Biographie Ruth Senns umkreisend, zum anderen jenes skizzierend, was Bilder, aber auch die hier gezeigten Objekte meiner Meinung nach zu „reicher“ Kunst werden lässt. 

 

Als ich anfangs 1997 von Köln nach Davos wechselte, hauptsächlich wegen der herausragenden Architektur des Kirchner Museums und natürlich auch wegen dem Künstler Ernst Ludwig Kirchner, der sicher zu den bedeutendsten Avantgardisten des frühen 20. Jahrhundert zu zählen ist, begab ich mich auch in eine gewisse kulturelle Diaspora, zum mindesten dachte ich das im Hinblick auf die Bildende Kunst. Doch inzwischen gibt es so etwas wie eine kleine Zelle der Gegenwartskunst in dem Ferienort.  

Neben Ruth Senn, deren Atelier manchmal auch als Kontaktstelle dient, ist hier vor allem das Bureau TM zu erwähnen, das leider in noch unregelmässigen Abständen freie Ausstellungen zur aktuellen Kunst an wechselnden Orten in Davos präsentiert.

 

Ich selbst habe Ruth Senn 1998/99 kennen gelernt und verfolge seitdem ihren 

künstlerischen Weg. Schon beim ersten Atelierbesuch war ich von den Werken angenehm berührt. Sicher auch, weil mir in ihnen wieder eine künstlerische Welt entgegenkam, mit der ich mich über zehn Jahre beschäftigt hatte; salopp gesagt, die „reine Malerei“. Der Expressionismus war ja immer eher ein Nebenweg meines Interesses. Wie auch immer, an einem sonnenerfüllten Tag stand ich vor den damaligen Bildern Ruth Senns, hörte ihren Beschreibungen zu, und versuchte, das Gemalte in meine Wahr-nehmungssysteme zu übersetzen, Worte und Begriffe zu finden, mit den ich das Gesehene einigermassen gültig beschreiben könnte.

Dies versuche ich noch immer, heute vor und mit Ihnen. 

 

Aber an dieser Stelle muss ich doch einiges zum Werdegang Ruth Senns einfügen. Ich denke, dass man erst dann dem Besonderen annähern kann, das die Künstlerin gerade in Ihrer letzten Werkreihe, die Sie hier sehen, leistet - man sollte sehen, wie sehr sie sich jetzt von den Bedingungen Ihrer künstlerischen Herkunft löst. Ruth Senn ist ausgebildete Grafikerin; genauer sie hat fast 2 Jahrzehnte als Werbegrafikerin gearbeitet. Doch im Gegensatz zu dem, was man annehmen könnte hat sie in dieser Zeit keine „freie“ Kunst produziert, also keineswegs parallel in ästhetischen Welten gearbeitet.

Mitte der 80er Jahre ist sie dann sozusagen von einem Lager in das andere gewechselt - und arbeitet seitdem konsequent im Bereich der freien Kunst. Auf 1986 lässt sich auch ihre erste Einzelausstellung datieren. 

Es sei nicht geleugnet, dass sich in ihrer ersten Werkreihen noch deutlich das grafische Geschick, die erlernte Verve im Umgang mit Farben und Formen abzeichnete. Vielleicht ging es ihr wie vielen akademisch ausgebildeten Künstlern der Moderne: Erst einmal wollte das Erlernte vergessen oder „ver-lernt“ sein, bevor die eigenen Absichten und Formfindungen in den Werken zum Tragen kommen. Hinzu kommt die manchmal lähmende Kraft, um nicht zu sagen die Übermacht einer spezifisch schweizerischen Kunsttradition, jener der konstruktiv- konkreten Richtung, die seit Max Bill und Richard Paul Lohse ganze Generationen der Schweizer Kunst und des Design prägte, wohl auch heute noch formt - auch im Widerspruch.

 

Um es pointiniert zu formulieren: Das erste Jahrzehnt der künstlerischen Arbeit Ruth Senns bestand vor allem in einer konzentrierten Auseinandersetzung und der letztlich auf ihr lastenden Macht der Tradition. Mit dem Entschluss, sich den Problemen von reiner Farbe und reiner Form in Geviert einer Leinwand zu widmen, hatte sich die Künstlerin auf wohl eines der schwierigsten Felder der jüngeren Kunstgeschichte begeben - zum einen wegen der bereits erwähnten „Vorbilder“. Zum anderen, weil sie das in einer Zeit tat, in der Malerei vielfach per se nur noch als zweitrangige Kunst angesehen wurde - und dementsprechend kaum je wirklich gesehen und gewürdigt  werden konnte.

 

Bewundernswert ist, dass Ruth Senn sich die Zeit und die Ruhe genommen hat, in einem sehr lauten Umfeld, ihren eigenen Weg zu finden; auf diesem Weg immer wieder künstlerische Orientierungspunkte zu formulieren, bei denen andere stehen geblieben wären, weil sie den Punkt als Zeitmarkierung angesehen hätten. Sie können dies gerne in dem 2001 erschienenen Katalog überprüfen, in dem man auch einen sehr interessanten Text von Regina Lange und John Matheson nachlesen kann.  Gleichzeitig dokumentiert dieser Katalog jene Werkgruppe, die der hier gezeigten vorausging.

Insofern kann es sehr spannend sein, mit dem „falschen“ Katalog durch diese Ausstellung zu gehen. In der dort vorgestellten Werkgruppe der Jahre 1999/2000 war Ruth Senn schon sehr weit gegangen. Sie hatte das konstruktiv-konkrete Bildsystem emotionell aufgeladen (was ihr vielleicht gar nicht so recht war), aber vor allem hatte sie Konstanten wie „Hard-Edge“, rationale Planung, Berechenbarkeit, Systematik und so weiter einer sanften Auflösung unterzogen. Sie hinterlegte das Systematische mit einer intuitiven Setzung von Farben und Formen - letzteres sollte aber nicht mit Willkür verwechselt werden. 

In unserem Zusammenhang soll nur erwähnt werden, dass eine Methode wie „Transparenz“ zur Komponente ihrer Arbeit wurde. Dennoch behielt sie verschiedene Einschränkungen bei, welche ihr mehr oder weniger von der Tradition vorgegeben waren, auf die sich noch immer ausdrücklich bezog (und bezieht). 

Die „Begrenzung“ auf wenige Grundstrukturen „Quadrat, Rechteck und rechteckiges Band“ beziehungsweise der Kombination dieser Formen, der Umgang mit den Grundfarben Rot, Blau und Gelb und als behauptete Grundfarbe Grün beziehungsweise deren aufgehellte Modulationen (nicht Mischungen) lassen sich noch immer an der Tradition messen. Aber in den Bildern von Ruth Senn ereignete sich phänomenologisch etwas, das sich von den Kompositionen und von den Wahrnehmungen der traditionell konstruktiven Kunst beträchtlich unterschied.

Die Farbe dominierte die Formen; die Kombination der Farben überstieg den formal vorgegebenen Rahmen. Die Balance zwischen diesen beiden Bildmomenten war, obwohl oder vielleicht gerade weil die Farben „milimalisiert“, in extremen Masse zurückgenommen wurden, „gestört“, teilweise gar nicht mehr vorhanden. 

Zumindest habe ich dies so bei einem meiner Atelierbesuche empfunden.

 

Mich beschäftigten die Farbwerte innerhalb der Bilder, beziehungsweise die weichen fliessenden Grenzen zwischen den einzelnen Farbflächen. Das jeweilige Bild wurde für mich zum Farbflimmern - fast bis an den Rand der Sichtbarkeit. Die Bilder wurden - ich spreche für mich - zu Metaphern des Unfassbaren, gehalten allein durch ihre Erscheinung als Tafelbild: Stille Bilder 

mit einer unwahrscheinlichen Wahrnehmung.

Der wichtigste Satz in dem erwähnten Katalogtext von Lange/Matheson war in meiner Lesart die etwas rätselhafte Behauptung, die ich hier, aus dem Kontext genommen, wörtlich zitieren will: „Sie (die Künstlerin) wollte letzten Endes die stoffliche Wirkung der Bilder aufheben.“ Über die Bedeutung dieses Satzes habe ich lange nachgedacht, ohne zu einem Ergebnis zu kommen, weswegen ich ihn letztlich in das Reich der kunsttheoretischen Äusserungen verbannte, die gut klingen, aber nichts mehr aussagen. Die Lösung wurde mir bei meinem letzten Atelierbesuch gezeigt. Es ging weniger um die „Aufhebung der stofflichen Wirkung des Bildes“ als um die Aufhebung der Bildgrenzen, um die Suggestion eines Unendlichen.  

Denn inzwischen war die Künstlerin an einem Punkt angelangt, der sich bereits in ihren betont hochformatigen „Farb-Band-Bildern“ der Jahre 1999/2000 angekündigt hatte. Das Hermetische der Quadratbilder war endgültig aufgebrochen. Durch die Verschmälerung der relativ breiten Farbbänder zu Streifen , kombiniert  mit einer Veränderung der Farbpalette hin zu gebrochenen Farbtönen oder gelegentlich auch der Reduktion auf zwei Farbtöne, angewendet sowohl auf Hoch- wie auch Querformate, hat die Künstlerin jetzt zu einer komplexen Einfachheit gefunden. 

 

Einfach sind die Bilder, weil es nicht mehr offensichtlich um kalkulierte Form-Farb-Abläufe geht, sondern eher um „Sich-Ereignen-Lassen“ von Farbe. Farbe, die ihren Ort selbsttätig findet.

Hier würde ich gar Berührungspunkte zur deutschen „Radikalen Malerei“ der 90er Jahre sehen: aber das mag eine Folge meiner Kölner Erfahrungen sein. Komplex sind die neuen Bilder, gerade weil sie sich im Eigentlichen nicht mehr als in sich geschlossene Werke, die ihre festen Grenzen behaupten, beschreiben lassen. Was in den früheren Bildern bei den Übergängen von einer Farbe zur anderen geschah, namentlich die Überlagerungen, Grenzverwischung und Mehrdeutigkeit, gilt nun für das ganze Bild, das seine scheinbare Einheit zugunsten einer Raumwirkung aufgibt, das in den Raum greift und diesen potentiell vollkommen besetzen kann.

Das, was wir sehen, ist ein Ausschnitt aus einem „All-over“, aus einem Ganzen, das wir uns nur noch vorstellen können. Vielleicht ist diese neue Freiheit in den Arbeiten Ruth Senns eine Folge ihrer Beschäftigung mit dreidimensionalen Objekten, die seit einigen Jahren ihre malerische Arbeit begleitet.

Das sind zum einen die aufeinander oder nebeneinander gestapelten gleichförmigen Bildkörper, hier wäre wohl das Wort „Farbkörper“ angebrachter; zum anderen, und vor allem, sind es aber die gestaffelten und verschachtelten Acrylglaskörper, die früher mit farbigen Folien akzentuiert, heute mit einer lasierenden Farbschicht bemalt, die weit differenzierte Lichtwirkungen erlaubt. Beide Objektformen waren schon immer durch zwei Eigenschaften gekennzeichnet, die man nun in den Gemälden wiederfindet. Die Gleichförmigkeit des Farbablaufs, vorgegeben durch die Plattenstärke, und die Raumhaltigkeit beziehungsweise Ausstrahlungskraft. Raumhaftigkeit, da die Glasobjekte den Umraum, die Leichtigkeit des Umfelds, zur Komponente der eigenen Wirkung werden lassen; Ausstrahlungskraft. weil sie Licht ausstrahlen - ein Phänomen übrigens, das man auch bei den Gemälden Ruth Senns schon früher und heute ganz besonders feststellen konnte und kann: Die Bilder absorbieren kaum Licht, sie geben es ab, färben die Umgebung ein. Und damit hat Ruth Senn, so denke ich, ihre grundlegenden künstlerischen Intentionen, jede vorgegebene Tradition überschreitend, in eigenständiger Weise und anschaulich formuliert, am Scheitelpunkt zwischen unaufdringlicher Rationalität und tiefgehender Sensibilität. 

 

Wir können das „Machen“ der Bilder durchaus nachvollziehen, aber in der Wahrnehmung entfalten sie ein „Geheimnis“, eine jener nicht mehr mit Worten fassbaren Eigenschaften, die nun einmal zu jenem Erlebnisbereich gehören, den wir mit dem Wort „Farbe“ umschreiben, aber nicht erklären können. Und für die Erkenntnis dieses „Mehrwerts“ sollten wir uns bei der Künstlerin bedanken, was ich hier tue.

 

Roland Scotti 

Davos, März 2003