über die werke von Ruth Senn
Kontemplation und Spiel
Die neuesten Werke der im Davoser Dischmatal arbeitenden Malerin Ruth Senn bilden eine Serie: Die achtzehn meist horizontal ausgerichteten Bilder im Format 100 auf 140 Zentimeter sind in Acryl auf Baumwolle gemalt, auf eine Aluminiumplatte aufgezogen und mit einem Abstand von der Wand montiert. Jedes Bild ist in einem eigenen Farbton gehalten – grau, blau, grün, braun, mauve oder gelb – und aufgebaut aus waagrechten, manchmal senkrechten, selten auch diagonalen Streifen, die ein feines Netzwerk bilden. Die Werke erscheinen zunächst monochrom, zeigen aber bei genauer Betrachtung einen Reichtum an Nuancen, und ihre klare Flächigkeit eröffnet tiefe Farbräume.
Ruth Senn präpariert ihren weissen Grund selbst, gestaltet die Komposition mit unterschiedlich breiten Klebebändern und gibt darüber die hochverdünnte Farbe, die sie mit einer Walze in zahlreichen, bis zu sechzig Schichten aufträgt. Sie malt nur die hellen Töne; die parallel liegenden oder sich kreuzenden dunklen Streifen entstehen im fortschreitenden Arbeitsprozess durch die Technik des Abklebens. Dabei gewinnt die Lasurmalerei eine grafische Qualität: Malerei verweist auf Zeichnung.
Früh hat sich Ruth Senn für eine gedämpfte Farbigkeit entschieden, für soft colours, so der Titel eines Werks aus dem Jahr 1988. Sie wählt auch meist kalte Farben, die sie für ihre Eigenschaft schätzt, sich nicht aufzudrängen. Andeutung und Zurückhaltung lassen die Farben aber noch stärker wirken, und um die Wirkung von Farbe und um genaue Wahrnehmung kreiste das Werk der Künstlerin von Anbeginn. Ihr eigenes langsames, suchendes Arbeiten legt uns nahe, vor ihren Bildern zu verweilen und wirklich zu sehen.
Das „ruhende“ Querformat zieht Ruth Senn dem aktiv wirkenden Hochformat vor, und mit dem Abstand zur Wand verleiht sie ihren Werken zusätzlich die Anmutung des Schwebens.
Die Horizontale meint für Ruth Senn eine Weite und Öffnung im Bildraum, sie verweist aber auch auf den Horizont. Mit verdünnter Farbe und zurückgenommener Formensprache reduziert die Künstlerin die Natur ins Werk: Schräg fallender Regen, sanfter Wind, diffuser Nebel, senkrechte Berglinien und waagrechte Flussläufe gehen in ihren Bildatmosphären auf.
Künstlerische Exaktheit, Geometrie und strenger Bildraster lassen auf ein Interesse an Perfektion schliessen, doch gibt Ruth Senn stets auch der Empfindung und dem Zufall Raum: So ist bei der braun-blauen Bildgruppe Tunesien (08/2011 und 04/2011) das Bildformat als ideales Verhältnis berechnet, die ornamental wirkenden Schrägen sind aber aus dem Gefühl heraus entwickelt, und die sorgfältig aufgetragene Farbe wird durch Fehler im Stoff belebend gestört. Ruth Senn erlegt sich Beschränkungen auf, um gegen sie anzuarbeiten. Innerhalb der strengen Form bewegen sich ihre Farben frei, vibrierend erobern sie den Raum.
Theorie sei nicht ihre Sache, meint die Künstlerin, sie helfe nicht bei der Arbeit. In die Berechnung hinein pflanzt sie bewusst die Freiheit, die offene Suche, das neugierige Spiel: mit Farbe und Form, mit Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit.
Karin Schick
Kirchner Museum Davos / Hamburger Kunsthalle